5 Fragen an ... - Franziska Becker trifft Inge Deutschkron

10.01.2011: Zwei Wilmersdorferinnen im Gespräch

Am 11. Januar 2011 besuchte ich das erste Mal Inge Deutschkron. Sie wohnt seit Jahren im Wahlkreis 6 in Charlottenburg-Wilmersdorf. Und ist seit Juni 2006 wieder Mitglied der SPD. Während meines Besuches tauschte ich mich über ihren Lebensweg und die von ihr verfassten Bücher aus und fragte sie natürlich, was sie sich von der Berliner SPD und von mir als zukünftige Abgeordnete wünscht. Sie gab mir unter anderem mit auf den Weg, dass es für sie wie sicher für viele Senioren im Kiez mitunter lange Wege sind, die für den täglichen Einkauf zurück gelegt werden müssen. Der "Tante-Emma-Laden" und der früher zahlreich vertretene inhabergeführte Einzelhandel fehlen ihr. Ich versprach ihr, mir dies im Wahlkreis 6 genau anzuschauen, und darauf zurück zu kommen.

Es ist wirklich unglaublich, mit welcher Energie und Leidenschaft Inge Deutschkron in den vergangenen Jahrzehnten gerade Schülerinnen und Schülern, die die Nazizeit wenn überhaupt nur aus den Erzählungen ihrer Eltern oder Großeltern kennen, diese Zeit näher gebracht hat. Mein Mann ist noch heute ganz gerührt, wenn er daran zurück denkt, als sie Mitte der 80er Jahre in seine Schule kam, aus ihrem Buch "Ich trug den gelben Stern" gelesen und anschließend Fragen der Oberschüler beantwortet hat.

Bei einem zweiten Besuch im Mai interviewte ich Inge Deutschkron mit folgenden Fragen:

5 Fragen an … Inge Deutschkron


1) Wann sind Sie auf die Idee gekommen, Ihre Geschichte als "lebendes Buch" in die Schulen zu tragen?

Nach dem 2. Weltkrieg habe ich viel darüber nachgedacht, was man tun müsste, um zu verhindern, dass jemals wieder ein Volk - so wie die Deutschen - auf den Nationalsozialismus reinfällt. Auf dieses System, das Manchen verachtet und all jene ermordete, die ihnen nicht passten. Dabei dürfte auch das furchtbare Leid, das sie diesen Manchen antaten, niemals vergessen werden. Mir schien die Darstellung der Geschehnisse aus eigenem Erleben die beste Möglichkeit dazu.

2) Haben sich die Reaktionen der Kinder und Jugendlichen geändert, wenn man die 1980er Jahre beispielsweise mit heute vergleicht?

Als ich in den frühen 1980iger Jahren anfing, in Berliner Schulen zu gehen, hatte ich noch einige unerfreuliche Erlebnisse. Einige Schüler fragten mich: "Mit welchem Recht verlangen sie von uns Deutschen Wiedergutmachung?" Oder: "Was halten Sie davon, dass der arme alte kranke Mann - Rudolf Hess - noch immer im Gefängnis von Spandau festgehalten wird?" Als meine Antworten ihnen nicht passten, stürzten sie aus der Klasse und schmissen die Türen. Derartige Erlebnisse habe ich in den letzten Jahren nicht mehr gehabt. Im Gegenteil, das Interesse und auch die Neugier der Schüler sind gewachsen. Die Tatsache, dass das Thema Nationalsozialismus nunmehr in den Schulen gelehrt wird, mag dazu beigetragen haben. Vielleicht aber auch die Gespräche mit den Zeitzeugen.

3) Woher nehmen Sie die Kraft, nach all den Jahren immer noch in Schulen zu gehen, auch auf die Gefahr hin, dort auf Desinteresse zu stoßen oder schmerzhafte Fragen beantworten zu müssen?

Die Kraft, auf Fragen nazistischer Art zu antworten, beziehe ich auch heute noch aus dem Willen mitzuhelfen, dass die junge Generation über die verbrecherische Politik der Nazis informiert werden muss. In den ersten Jahrzehnten der Existenz der Bundesrepublik ließ man die Jungen darüber in Unkenntnis. Außerdem fühle ich mich in der Schuld, dass ich mich versteckte, während die anderen in die Gaskammern geführt wurden. Ich kann meine Schuld nicht anders abtragen, als dass ich ihr Schicksal bekannt mache. Sie können es ja nicht mehr erzählen.

4) Wenn Lehrer, Schüler oder Eltern Sie einladen wollen, wie können Sie dies tun und wie kann die Lehrkraft die Schüler auf den Besuch/die Lesung einstimmen?

Ich bin für Schulen, für Schüler, für Lehrer usw. im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt, Rosenthaler Straße 39 (Mitte), zu erreichen. Wir führen täglich Gruppen durch unser Museum, in dem damals jüdische Blinde Besen und Bürsten herstellten unter der Leitung von Otto Weidt, der sie betreute, so weit es ihm möglich war. Wir legen Wert darauf, dass die Lehrer ihre Schüler auf das Thema Nationalsozialismus vorbereiten, bevor sie zu uns kommen. Im Museum, das vollkommen erhalten ist, bekommen sie Erläuterungen, sehen Fotos aus jener Zeit und Dokumente, die ihnen die Zeit illustrieren.

5) Was können wir tun, damit die Erinnerung nicht verblasst, wenn die Zahl der Menschen abnimmt, die die damalige Zeit im Dritten Reich miterlebt haben?

Schon jetzt gibt es nur noch wenige Menschen, die über diese Zeit berichten können, entweder aus Krankheits- oder aus Altersgründen. Es ist schwer vorauszusagen, ob die vielen Bücher, Filme und Dokumente über dieses Thema ausreichen werden, um den nachfolgenden Generationen das damalige Geschehen als Wirklichkeit zu vermitteln. Nun handelt es sich bei dem Thema Holocaust für die meisten Menschen um eine unbegreifliche Materie. Und Unverstandenes bleibt lebendig, je nach Temperament, als störende Frage oder quälendes Problem. Und solange die Frage Rätsel aufgibt, besteht auch die Gefahr, ähnlicher Verbrechen wie damals, als man die Menschen sortierte, diskriminierte, quälte und schließlich mordete. Umso wichtiger, ja unerlässlicher ist es, dass das Thema Nationalsozialismus breiten Raum einnimmt im Lehrplan unserer Schulen. Und wenn es nur dazu dient, Gefahren ähnlicher Art zu erkennen und ihnen rechtzeitig zu begegnen. Die Menschheit wird von den Gefahren solcher Verbrechen erst frei sein, wenn die gesellschaftlichen, sozialen und politische Hintergründe, die den Nazis den Weg zur Macht bereiteten, wirklich aufgeklärt sind. Das bleibt auch unser aller Aufgabe.

Inge Deutschkron, Jahrgang 1922, wuchs in Berlin auf. Die Familie wurde von 1933 an wegen ihrer politischen Arbeit in der SPD und als Juden verfolgt. Dem Vater gelang noch kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Flucht nach England. Die Mutter und Inge mußten in Berlin zurückbleiben und waren von Kriegsbeginn an einer immer grausamer werdenden Verfolgung ausgesetzt. Sie ist und bleibt eine sehr wichtige Zeitzeugin.

Am 17. Mai 2011 fand in der Bonhoeffer-Bibliothek in der Brandenburgischen Straße 2 eine Lesung mit Inge Deutschkron statt.

Sehr ans Herz legen möchte ich Ihnen und Ihren Kindern auch das beindruckende Theaterstück im Grips-Theater "Ab heute heißt Du Sara", das auf dem Buch von Inge Deutschkron aufsetzt.

Mehr zu Inge Deutschkron finden Sie auf den Seiten der Inge Deutschkron-Stiftung.

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